C o i n c i d e n t i a

Zeitschrift für europäische Geistesgeschichte

 

 

Vorwort Band 8/2 - 2017

Wissensdiskurse

Wissen ebenso wie Weisheit ist nichts Feststehendes, immer muss das eine wie das andere von Neuem erarbeitet werden, für einen veränderten Blick, den der Zeitverlauf mit sich bringt, geöffnet, ja sichtbar gemacht werden. Dabei wandeln sich oder zergehen die auf längere Zeit hin gültigen Sicherheiten, es verschiebt sich das, was als Tatsache gilt. Die vorliegende Coincidentia legt beispielhaft einige Beiträge vor, die diese Gegebenheit ausführlicher entfalten und so die unterschiedlichen, zeitgebundenen Sichten auf Wissen, Weisheit und Tatsachen grundlegend zu belichten vermögen. Bewusst den vorsokratischen Begriff des απειρον aufgreifend unternimmt der erste Beitrag von Renate Wahsner und Horst-Heino v. Borzeszkowski einen dichten Durchgang zu grundlegenden Haltungen gegenüber dem, was als Wirklichkeit gilt. Insbesondere kommt dabei Cusanus in den Blick mit seiner Auffassung, dass das Eigentliche, das unverfälscht Wirkliche nur das Ganze sein kann, das freilich nicht zu erfassen ist. Allerdings sind Näherungen, Anähnelungen an dieses grundlegend Entzogene möglich; über spezifisch modellierte Konzepte kann der Mensch sich von diesem ein Bild machen. Dem stehen das vorherrschende Selbstbild und die gängige gesellschaftliche Auffassung der Naturwissenschaften gegenüber, beide gehen von der Voraussetzung aus, dass Gegenstände dieser Wissenschaften die Naturgegenstände an sich seien, dass also die naturwissenschaftliche Sicht die von ihr in den Blick genommenen gegenständlichen Befunde unmittelbar, so wie sie an sich sind, erreicht. Im Anschluss an Cusanus und unter Rückgriff auf Überlegungen bis hin zu Kant, Hegel und Feuerbach wird nun beispielhaft bei Galilei nachgewiesen, dass notwendigerweise "ideale Gegenstände" in der Wissenschaft anzunehmen sind: Sie erst machen die für die Naturwissenschaften unerlässlichen Beobachtungen möglich. In der spezifischen Formung der "idealen Gegenstände" dringt freilich unvermeidbar ein zeitliches Moment in die scheinbar 'rein sachliche' naturwissenschaftliche Beobachtung ein, und so ist konkret mit zeitbedingten Verstehensschemata zu rechnen. Auch die naturwissenschaftliche Datenaufnahme entkommt somit nicht der Relativität des Wissens, sie erreicht kein empiristisch 'Feststehendes', sie ist angewiesen auf "ideale Gegenstände", um Ordnungsbezüge im απειρον, im Ganzen zu gewinnen. Diese Darlegungen führt der folgende Beitrag von Michael Lewin auf eine gewisse Weise fort - sofern man sich klar macht, dass Nietzsches Ablehnung des Deutschen Idealismus nicht wirklich die erörterten "idealen Gegenstände" berührt, sind doch diese keineswegs mit einer höheren 'Geistigkeit' verbunden, sondern mit dem Verstehensprozess. So gesehen bietet Nietzsche mit dem von Lewin rekonstruierten psychologischen Skeptizismus keinen Gegenentwurf zum ostulat der "idealen Gegenstände", sondern vertieft lediglich deren Quellgrund in das Psychische und Interpersonelle. Giorgis Fotopoulos' Überlegungen zum "Drama des Denkens" vermag das zu ergänzen mit seinen Suchbewegungen zu Modalität und Vollzug der Denkvorgänge im Inneren des Menschen, den im Fortschreiten, Fortwirken des Denkens zusammentretenden Formen von "Bild-Klang" und "Klang-Bild". Auch hier sieht sich der Mensch vor ein nicht faßbares Ganzes gestellt, erneut also das απειρον, und erlebt sich angesichts dessen als "Untersuchender" und zugleich "Untersuchter", vor einem Enden, das hinzunehmen, ja anzunehmen ist und so erst lebt. Im Aufsatz Ludwig Lehnens erfährt die Frage nach zeitspezifischen Sichten und Wissensmodi eine poetologische Wendung: Er beschreibt für Mallarmé eine "dichterische Transposition", in der das "Ich", analog zum Ding, aufhört, um seinetwillen da zu sein, und dem schließt sich George an, mit aller damit verbundenen Härte. Das meint nicht, den Menschen schlicht in ein schaudervolles Nichts zu entlassen oder das Gesehene pseudoreligiös zu verbrämen, sondern zielt vielmehr darauf, für den Menschen eine Eigenkraft zu beschreiben, seine Schöpferkraft aufzurühren: in die Pflicht zu nehmen. Beider Dichtung sucht das Eigenpotential der Wortmagie darzustellen und zu entfalten, fordert ein sich Stellen in das verantwortete Wort, angesichts eines Grundlosen.

Wolfgang Christian Schneider

 

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